Die Flüchtlingskrise

„Wir schaffen das!“

Im Spätsommer des Jahres läuft die Kanzlerin zur Höchstform auf und verschafft sich mit einem kleinen Satz ihren ganz großen Auftritt. Ihre Botschaft ist angesichts der zunehmend eskalierenden Berichterstattung der deutschen Öffentlichkeit, die die Flüchtlingstrecks auf der Balkanroute begleitet, unmissverständlich: Lesbos, Aylan, Stacheldraht, der Kühllaster, der Budapester Hauptbahnhof … eine gigantische humanitäre Katastrophe bahnt sich an, und sie bewegt sich auf Deutschland zu. So braucht die Kanzlerin nur drei Wörter, um damit dem ganzen Land eine menschlich gebotene Gemeinschaftsaufgabe anzusagen: „Wir schaffen das!“ Ein Riesenkompliment, das sie Deutschland damit ausstellt; ein Kompliment an die ganze Nation – an das potente Staatswesen wie alle seine mitfühlenden Insassen gleichermaßen: „Wer, wenn nicht wir …“ kann da wirklich was bewegen und wird diese Flüchtlingskatastrophe bewältigen?

Fragt sich nur: wer denn eigentlich, wenn „wir“?

wir-schaffen-das-die-kanzlerinVon ihrer Kanzlerin angesprochen werden die Deutschen auf einer ganz privaten Ebene, quasi von Mensch zu Mensch: Alle ihre Landeskinder, und sie als eine von ihnen, sind ein wahrhaft humanitärer Samariterverein. Das sagt sie sehr nachdrücklich und halb beleidigt der Nation an: „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“ Was der Betroffenheit der Frau Merkel freilich überhaupt nur Bedeutung gibt, was ihre Ansage von einer Sonntagspredigt über die Nächstenliebe unterscheidet und zwar gewaltig, ist die Tatsache, dass die Chefin des Landes zu ihrem Fußvolk eben gar nicht einfach menschlich privat spricht. Was ihren Worten das Gewicht verleiht, so dass sich kraft ihrer Ansage in Sachen Katastrophenbewältigung wirklich was bewegt, ist zum einen die Potenz der deutschen Nation – und zum anderen, dass sie dieser Nation vorsteht. Dass sie nicht via Talk-Show und per Spendenaufruf, sondern per Anweisung an ein großes Beamtenheer alle Hebel der Kommandogewalt in der Hand hat, und dass die Potenzen, über die sie kommandiert, eine ordentliche Größe haben – das unterscheidet sie von allen anderen „Mitbürgern“, die sie so vereinnahmend anredet.

Diejenigen, die sich von ihrer Ansage als moralische Individuen in ihrer menschlichen Betroffenheit angesichts des Flüchtlingselends angesprochen fühlen, haben von sich aus so gut wie nichts in der Hand, um an der von ihrer Landeschefin angesagten Gemeinschaftsaufgabe mitwirken zu können. Ob sie alleine zur Tat schreiten oder gemeinsam was Nettes organisieren – sie kommen schnell an die Grenzen ihrer privaten Fähigkeiten. Und über irgendwelche Befugnisse verfügen sie schon gleich nicht: Was aus den Flüchtlingen und der Gemeinschaftsaufgabe überhaupt wird, darüber entscheiden praktisch die zuständigen Instanzen, nicht sie.

Das private Engagement ihrer Landeskinder ist der Kanzlerin jedoch sehr willkommen als Belegmaterial dafür, dass sie mit ihrem Kommando dem anständigen Deutschen aus dem Herzen spricht. Denn nur wegen der Gleichsetzung ihrer hoheitlichen Entscheidung, Flüchtlinge bis auf weiteres in irgendwelchen Lagern zu verstauen, mit dem Aufruhr von Mitleid und Hilfsbereitschaft, der sich im Lande rührt und den die Öffentlichkeit gebührend herausstellt, fällt auf die Nation das großartige Licht eines humanitären Gesamtkunstwerks, das die Regierungschefin „stolz und dankbar“ macht: „Die Welt sieht Deutschland als ein Land der Hoffnung und der Chancen“. Wenn sie dann noch hinzufügt: „Und das war wahrlich nicht immer so“ und damit implizit auf die Großtaten des Dritten Reichs anspielt, dann stellt sie ihre politischen Entscheidungen in einen historischen Zusammenhang, der von ihrer Größe zeugt und ihr unbedingte Zustimmung sichern soll. Sie wird schon wissen, warum sie dieses große Kaliber bemüht: Es gehört schließlich zum Weltbild der Mehrheit in ihrer eigenen Partei, alles, was einem an Deutschland missfallen kann, der Überfremdung der Nation durch illegale Ausländer und sonstige Migranten zur Last zu legen. Mit ihrer Ansage: „ … dann ist das nicht mein Land!“ will sie diesen Widerständen von vornherein den Schneid abkaufen.

Das geht schief. Gegen ihr „freundliches Gesicht“ wird aus Regierungskreisen entschiedener Einspruch erhoben: „Das ist nicht zu verkraften“, „das war ein Fehler!“ tönt der Vorsitzende der kleinen Schwesterpartei. Vor lauter Gastfreundschaft und Humanismus, so sein Vorwurf, ignoriert und überschreitet die Kanzlerin – pflichtwidrig und leichtfertig – die „Grenzen der Belastbarkeit“.

Welche Grenzen meint er eigentlich? Die Belastung der freiwilligen Helfer, die bis zur Erschöpfung Decken verteilen? Oder die seiner Polizisten, die haufenweise Überstunden schieben? Der Bürgermeister, der Landratsämter? Ja, einerseits schon irgendwie auch; aber wenn er nur das im Blick hätte, dann hätte er ja selbst die Mittel in der Hand, Entlastung zu organisieren. Als Vorwurf an die Flüchtlingspolitik der Chefin des Landes taugt das alles nur, insofern er mehr das Große Ganze, das deutsche Volk im Sinn hat. Angespielt wird schon eher auf Belastungen, die der Masse seiner Adressaten gleich vor Augen stehen, wenn die Grundeigentümer sich zu Wort melden und Subventionen für mehr Mietwohnungsbau fordern und wenn prompt auch die Unternehmer großzügig ihre Hilfe anbieten – „aber nur ohne Mindestlohn!“, versteht sich. Die vielen anderen Menschen im Land, die weder Baugrund noch eine Firma haben, hören gleich die Erinnerung an die Lasten ihres alltäglichen Kampfes um Wohnung, Lohn und Arbeitsplatz, also an ihren konkurrenzgeschädigten Materialismus heraus – und sollen das auch. Aber wenn es wirklich um den ginge, hätte Seehofer reichlich weit sachlichere Anlässe, „Grenzen der Belastbarkeit“ auszurufen, als ausgerechnet die zunehmende Zahl von Flüchtlingen, die ganz bestimmt weder Wohnungen noch Arbeitsplätze zu vergeben haben, geschweige denn für das Zahlen von Löhnen zuständig sind.

Worauf Seehofer abzielt, das ist derselbe gemeine Fehlschluss, den die Kanzlerin kennt und mit ihren Lobpreisungen für das großartige Deutschland für sich vereinnahmen will: der Fehlschluss von den Nöten, die das System der Konkurrenz um die elementaren Lebensbedingungen Gelderwerb und Wohnraum erzeugt, auf Fremde, denen auch nichts anderes bevorsteht, also auf zusätzliche Konkurrenten von außen als die Verursacher aller einschlägigen Drangsale. Die Grenzen der Belastbarkeit sind demnach solche der Belastung des patriotischen Gemüts, das „die Fremden“ für alle Belastungen verantwortlich macht. Seehofers verlogener Appell richtet sich an den Geist des Nationalismus, der alle Härten der Konkurrenz im Dienst an der dafür zuständigen Staatsgewalt im Namen der Heimat heiligt und sich als Gemeinschaftsgefühl in der Ausgrenzung „Fremder“ am besten gefällt: Fremdenhass als das Remedium – das nichts heilt, sondern nur auf lauter Enttäuschungen schließen lässt, die zur deutschen Konkurrenzgesellschaft für ihre Insassen offenbar zwangsläufig dazugehören. Wenn Seehofer mit der größten Selbstverständlichkeit daran „erinnert“, dass „die Stimmung des Volkes zu kippen droht“, als wenn das eine natürliche Regung wäre, dann beruft er sich auf eben diesen Kollektivgeist patriotischer Bürger und gibt zu erkennen, wie sehr sich der Staat auf den verlässt.

Aber so leicht lässt die Kanzlerin sich nicht von ihrem Kurs abbringen. Der hat nämlich einen politischen Inhalt, und den verrät sie nebenher auch noch:

Wir sprechen in einer Zeit, in der Europa wieder eine große Herausforderung zu bewältigen hat. Es ist eine Bewährungsprobe historischen Ausmaßes … das zu schaffen, ist eine europäische und letztlich eine globale Aufgabe.“

Was im Klartext heißt, dass „wir es“ schaffen, wenn Deutschland in Europa die Maßstäbe setzt, wie mit dieser Fluchtbewegung umgegangen werden muss. Dafür steht der hohe Wert des Humanismus der deutschen Nation: für ein Stück Europa- und Weltpolitik. Wenn es hierzulande schon keiner kapiert, Frau Merkels Amtskollegen aus den Nachbarstaaten merken es sofort.

Das Ganze mündet in die Sache, um die es in der Demokratie immerzu geht: die Konkurrenz der Führungsfiguren um die Macht. Highlight in diesem Gezerre ist die Konfrontation zwischen Seehofer und Merkel auf dem CSU-Parteitag. Viel wichtiger als das vielbeweinte Schicksal von Millionen Flüchtlingen ist da auf einmal die Viertelstunde, in der Seehofer Merkel „auf offener Bühne abkanzelt“. Zu der Schäbigkeit dieses permanenten demokratischen Machtkampfs gehört zugleich dessen Veredelung zum Kampf um Werte. Merkel steht für die Idealisierung ihrer Politik zur praktizierten Moral der „Hilfe für die Schwachen“, die „wir uns schuldig“ sind; weltweite Nächstenliebe als letztlicher Grund für die Politik, die sie macht – woran bei aller Verlogenheit der Standpunkt der nationalen Stärke und Größe noch deutlich genug hervortritt. Seehofer repräsentiert dagegen den Standpunkt, dass an „den Werten“, worin auch immer sie bestehen mögen, allein entscheidend ist: es sind „unsere“, nicht die der Migranten, die daran erst angepasst – nämlich „integriert“ – werden müssen. Ein kleines Possessivpronomen – und schon ist klargestellt, wer hierzulande erstens das Sagen und zweitens ein allerhöchstes Recht darauf hat und wer drittens zu parieren hat. So erteilen die Kanzlerin und ihr bayerischer Ministerpräsident in ihrem Streit auch noch eine aufschlussreiche Lektion über die Werte Europas.

 

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