Eine Wahl, ein Ergebnis, aber noch keine Regierung:

Wer darf an die Macht?

Seit dem offenen Ausgang der Wahl am 18. September interessiert die Republik nur noch eine Frage: Welche Figuren haben in welchem Zweckbündnis die nächsten vier Jahre das Sagen? Die sogenannten „gravierenden inhaltlichen Unterschiede“, die die konkurrierenden Parteien bis kurz vor dem Urnengang bemühten, um den Wählern zu betören, dass er bei ihnen und nicht bei den Konkurrenten ein Kreuzchen machen sollte, sind Geschwätz von gestern.

Bis zum Wahltag fanden sich in der Presse neben ergreifenden Politikerporträts auch noch Darstellungen der Unterschiede zwischen den Parteiprogrammen. Die von den TV-Anstalten vorgeladenen Politiker versuchten, ihre wertvollen Persönlichkeiten durch überragende Kompetenz und beinharte Prinzipientreue nebst Standfestigkeit in Sachfragen zu profilieren. Ob es mit Deutschland durch die Ab- oder durch die Wiederwahl der Schröder-Fischer- Regierung aufwärts gehe, ob Deutschland den „Wechsel“ brauche oder die Fortführung der Agenda 2010 durch den amtierenden Kanzler, darüber wurde mit Eifer und dem berufsspezi- fischen Geifer heftigst gestritten.

Seit dem Patt darf es auf soeben noch „völlig unvereinbare Positionen in politischen Grundsatzfragen“ gerade nicht mehr ankommen. War die Kanzlerpartei SPD für die CDU eben noch schuld an Stagnation und Nullwachstum, so stört sie seit dem Abend des 18. September an dieser Partei vor allem, dass sie Schröders Anspruch auf Verbleib im Kanzleramt unterstützt. Fuhren die Sozialdemokraten gegen die C-Parteien bis zum letzten Sonntag noch schwerste moralische Geschütze auf, etwa dass sie Reformen ohne jeden sozialen Ausgleich anstrebten und dass die Bundeswehr – hätten sie während des Irakkriegs die Regierung geführt – heute zusammen mit dem „Abenteurer“ Bush im Irak stünde, so entdeckte Müntefering ein halbes Jahrhundert seit dem ersten Einzug der CDU/CSU in den deutschen Bundestag auf einmal nur noch, dass die Merkel/Stoiber-Truppe bloß auf Grund der Fraktionsgemeinschaft die stärkste Seilschaft im Bundestag stellt und sich doch daraus kein Anspruch auf eine christdemokratische Frau als Kanzlerin ableiten lasse. Ansonsten können sich Christ- und Sozialdemokraten – die Plakate mit der Behauptung, am 18. September stehe Deutschland vor einer Richtungswahl, sind noch nicht abgehängt – locker vorstellen, in den nächsten 4 Jahren höchst erfolgreich für Deutschland gemeinsam zu regieren.

Dass Investoren laut CDU-Wahlwerbung wegen der grünen „Technologieverweigerungspolitik“ einen Bogen um Deutschland machten, ist vergessen, seit das Wahlergebnis für das schwarz-gelbe Bündnis nicht zur Regierungsmehrheit reicht. Immer mehr Christdemokraten konnten sich angesichts der zur Regierungsfähigkeit fehlenden Mehrheit auch eine Jamaika-Koalition unter Einschluss der Grünen vorstellen. Diese „Sondierungsgespräche“ musste Angela Merkel – leicht widerwillig – allerdings abbrechen, da die CSU ihr Veto einlegte: Immerhin war ein Gutteil bayerisch- christlicher Identität dadurch gestiftet worden, dass man mit besonderer Inbrunst auf den Grünen herumhackte – und wie sollte man der „Basis“, die doch gerade um fast 10 Prozentpunkte abgebröckelt war, einen solchen Schwenk begreiflich machen? Der Machteroberung in Berlin durch eine Jamaika- Koalition stand ein drohender Machtverlust der CSU in Bayern gegenüber, und den wollte sie nicht riskieren. Bezeichnend die Reaktion von Renate Künast – auf Nachfrage von Sabine Christiansen am 25. September – auf den Abbruch der Gespräche: Über künftige Koalitionen unterhalb von „Berlin“ sei damit noch keinesfalls das letzte Wort gesprochen…

Die FDP, die nach der Wahl tut, was sie vor der Wahl versprochen hat, nämlich nicht für eine Ampel-Koalition unter Führung Schröders zur Verfügung zu stehen, macht gar nicht erst den Versuch, dies programmatisch zu begründen. Sie ist das Festhalten an ihrer Koalitionsaussage ihrer „Glaubwürdigkeit“ schuldig. Sie will nicht schon wieder – wie schon so oft in ihrer Koalitionsgeschichte – „umfallen“ und gibt damit zu erkennen, dass für sie dann alle Differenzen zu den Grünen, die sie im Wahlkampf als unüberbrückbar herausgestellt hatte, durchaus überbrückbar würden, wenn der bisherige Koalitionspartner Schröders die Fronten wechselte und den Schwarz-Gelben zur Mehrheit verhülfe.

Das Problem, das nun dem Volk auf den Nägeln brennen soll, heißt: Bekommt diese große Nation möglichst bald die starke Regierung, die sie braucht und verdient? Denn unter demokratischen Verhältnissen werden alle gesellschaftlichen Bedürfnisse und Nöte, Verbesserungswünsche und Interessenkollisionen in die personenbezogene Machtfrage übergeführt. Das ist ja gerade die entscheidende Leistung dieses so vorbildlich effektiven Herrschaftssystems: Es schreibt jeder Sorte Unzufriedenheit im Bürgervolk und jedem politischen Begehren, auch jeder Kritik an der Staatsmacht und an ihrer amtlichen Betätigung als ihren eigentlichen, politisch einzig reellen Inhalt den Wunsch nach uneingeschränkt machtvoller Führung zu. Diese Unterstellung wird praktisch dadurch wahr gemacht, dass sie dem regierten „Souverän“ eine Auswahl zwischen mehreren – der Einfachheit und Übersichtlichkeit halber in stabilen Demokratien meist zwei – kongenialen Führungsalternativen zumutet. In die entsprechenden Abwägungen und vergleichenden Einschätzungen sollen mitdenkende Bürger ihre sämtlichen gesellschaftsbezogenen Bedürfnisse und ihren gesamten politischen Scharfsinn einmünden lassen – mehr als die Entscheidung zwischen den gegebenen Alternativen kommt ja ohnehin nicht heraus, also brauchen sie sich auch gar keine anderen Gedanken zu machen als den, wen sie ermächtigen sollen. Das dürfen sie dann als ihre große Freiheit begreifen und genießen. Mit ihrem Wahlkreuz haben sie sich ein Recht auf eine gediegene Führung erworben, die von den gewählten Parteien jetzt gefälligst hergestellt werden soll. Nach der Wahl wie vor der Wahl treibt mündige Demokraten die Sorge um, ob sie erstens anständig und zweitens vom besten zur Verfügung stehenden Führungspersonal beherrscht werden. Darin wird das Volk der Stimmbürger von der demokratischen Presse, deren Beruf schließlich die Bildung der Volksmeinung ist, die sie interpretiert, mit dem passenden Anschauungsmaterial und den zwei bis drei nötigen Argumenten versorgt. Alle fortlaufend zitierten dramatischen Problemlagen des einfachen Volkes, von Hartz IV bis zu den Benzinpreisen werden dem Bedürfnis der politischen Führung nach uneingeschränkter Richtlinienkompetenz zu- und untergeordnet. Jedes Urteil über die politische Macht und deren Gebrauch orientiert sich an so Kategorien wie „Stärke“ und „Schwäche“, also an immanenten Qualitätsmerkmalen und Erfolgskriterien der Herrschaft, am Ideal durchgreifender Führung und widerspruchsloser Gefolgschaft. Es grassiert das Modewort von den „Schnittmengen“. Damit wird einerseits angespielt auf die zuvor so wichtigen „unvereinbaren inhaltlichen Standpunkte“; die Besonderheit einer jeden Partei soll betont werden. Andererseits spricht es aber auch das dringliche Bedürfnis aus, wegen der unbedingten Notwendigkeit einer starken Führung für Deutschland, die parteieigenen „Standpunkte“ kräftig zu relativieren. Nachdem diese „Standpunkte“ – diesmal mit unbefriedigendem Ergebnis – ihren Wahlkampfdienst getan haben, ist das auch nicht so schwer, und alle loten – so tief es geht und unter Berufung auf den „Grundkonsens der demokratischen Parteien“ – ihre „Schnittmengen“ aus. Das geschieht freilich nur in Hinblick auf die entscheidende Frage und nur dafür, sie zu eigenen Gunsten zu entscheiden, nämlich wie viel eigenes Personal man beim Hergeben von „Mengen“ durchdrückt, wie viel eigener Führungsanspruch sich damit durchsetzen lässt. So ist es dann auch kein Wunder, dass die Parteien dazu bereit sind, sich die Macht in einer großen Koalition zu teilen, von der man übereinstimmend wenig hält, weshalb man vor der Wahl das Wahlvolk beschworen hat, es nicht zu einer solchen Koalition kommen zu lassen, die nur zu „Lähmung“ und weiterer „Stagnation“ führen könne. Angesichts eines – vom Standpunkt der großen Volksparteien aus – bescheuerten Wahlergebnisses geht eine machtvolle Regierung anders nun mal nicht zu machen, also ist nicht mehr von „Lähmung“ die Rede, sondern von einer „Konzentration der Kräfte“, um die „notwendigen Reformen“ zu schultern.

Und die Wähler, die angeblich mit ihrem Stimmzettel ihrer Unzufriedenheit sowohl mit der Schröder-Regierung als auch mit der Merkel- Alternative ein „Ventil“ verschaffen wollten, verfolgen interessiert und hoch motiviert das allenthalben als „Gerangel um die Macht“ beschriebene Treiben. Offensichtlich können demokratisch gereifte Bürger Kritik an ihrer Herrschaft tatsächlich nicht anders üben, ihre wie auch immer motivierte Ablehnung ihrer Machthaber in keiner anderen Weise ausdrücken, als in der Weise, dass sie sich in die Konkurrenz der Parteien um die Macht im Staat verstricken lassen und für die eine oder andere Seite, für eine neue Herrschaft oder doch noch einmal für die alte, eine Ermächtigung ausstellen – sie können nicht anders, weil ihnen als Wählern von Rechts wegen gar kein anderes Mittel zu Gebote steht; und als gereifte Demokraten kennen sie auch gar keine andere Weise, über Herrschaft zu urteilen.

Die Öffentlichkeitsarbeiter, die bis zum 18. September alles dafür getan hatten, die Wähler für oder gegen das eine oder das andere Parteienbündnis zu mobilisieren, geben sich seit dem 19. September abgeklärt: Den Schröders, Merkels, Fischers, Westerwelles und Konsorten geht es bei allen Beschwörungen von Grundund Gegensätzen um eines: um ihre Beteiligung an der Macht. Aber gerade weil es um die Macht in dieser Republik geht, geht es für sie eben nicht um jede beliebige und daher nicht mit jedem. Das sieht man schon allein daran, dass die bisherige Koalition aus SPD und den Grünen leicht an der Macht bleiben könnte, wenn sie sich von der Linkspartei unterstützen ließe. Doch genau das hat die SPD nicht nur vor der Wahl kategorisch ausgeschlossen, sie ist sich auch danach mit den Grünen einig, mit der Linkspartei noch nicht einmal zu sprechen. Konzessionen an Kritiker der Agenda 2010 – wie windelweich diese Kritik auch immer sei – kommen nicht in Frage; schon „unverbindliche Sondierungsgespräche“ wären ein Signal dafür, dass deren Kritik irgendwo berechtigt sein könnte.

Wenn alle im Wahlkampf aufgeblasenen Unterschiede zwischen Rot und Schwarz jetzt keine „unüberwindlichen“ Hindernisse für eine große Koalition bilden, wenn sich beide Parteien „ihrer Verantwortung bewusst“ sind, dann hat das seinen handfesten Grund im harten Kern dieser „Verantwortung“: Schwarze und Sozis waren und sind sich – „Richtungswahl“ hin oder her – über die Generallinie einig. Was Rot-grün mit der „Reform“-Agenda 2010 begonnen hat, muss fortgesetzt werden: Der Kapitalstandort Deutschland muss gesichert werden, und dafür muss der Preis der proletarischen Arbeitskraft radikal gesenkt und beim Sozialstaat drastisch gestrichen werden.

Die Volksparteien werden deshalb die Personalentscheidungen bei der Machtfrage schon geregelt kriegen. Auf eine Frau Bundeskanzler haben sich CDU und SPD jedenfalls schon mal geeinigt und auf die Verteilung der Ministersessel auch, da steht der großen Koalition doch kaum mehr etwas im Wege. Deutschland wird auf jeden Fall auch in den nächsten vier Jahren von dazu am 18. September ermächtigten professionellen Machtmenschen regiert und „reformiert“ werden.

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