Krebsfälle in Asse – statistisch total ungeklärt

Das niedersächsische Sozialministerium meldet eine Häufung von Krebsfällen rund um das Atommülllager Asse. „Krebs, der aus der Asse kommt?“(SZ, 26.11.2010) fragt nicht nur die Süddeutsche Zeitung. Man fordert umfassende Aufklärung und bekommt von den zuständigen Instanzen auch prompt „zügige und ergebnisoffene Ursachenklärung“ zugesichert. Das „ergebnisoffen“ ist dabei kein überflüssiger Zusatz – eine Klärung, deren Ergebnis schon feststeht, ist ja schließlich keine – , sondern macht in zweierlei Hinsicht Sinn:

Dass diesmal nicht beschissen wird, muss einerseits ausdrücklich betont werden. Es ist nämlich bekannt, dass „die Geschichte des Atommüll-Lagers Asse eine Geschichte der Lügen, Vertuschungen und Täuschungen“ ist. In den als „Forschungsbergwerk“ deklarierten Salzstock wurden über 10 Jahre lang „fast alle angefallenen schwach- und mittelradioaktiven Abfälle gekippt, was genau dort unten liegt (und in welchem Zustand), ist nicht vollständig erfasst.“ (SZ, 27./28.11.2010)

Bekannt ist auch, dass in das „marode“ Salzbergwerk von außen Wasser rein- und erheblich radioaktiv angereichert aus den Lagerkammern unten rausfließt. „In der Schachtanlage wurden dann seit Ende der 90er-Jahre Salzlaugen gemessen, deren Belastung mit Cäsium-137 die Grenzwerte um das bis zu Elffache überstiegen. … Gerade der zuverlässige Ausschluss aller Flüssigkeiten ist in unterirdischen Endlagern die Voraussetzung dafür, dass nicht langfristig doch Radioaktivität ins Grundwasser gerät.“ (Hamburger Abendblatt 25. Juni 2010)

Bekannt ist ebenfalls, worauf die befragte Strahlenmedizinerin vom Landesgesundheitsamt verweist: „Allerdings sei gerade bei Leukämie und Schilddrüsenkrebs Radioaktivität ein großer Risikofaktor.“ (HNA.de 16.12.10)

Andererseits berechtigt das aber nicht zu voreiligen Schlüssen über etwaige Zusammenhänge zwischen der strahlenden Asse und den gehäuften Fällen von Schilddrüsenkrebs und Leukämie unter den Ortsansässigen. Im Umgang mit dem Atommüll, so erfährt man umgehend, werden nämlich deutsche Grenzwerte behördlich überwachtermaßen eingehalten.

Die Überwachungsmessungen über und unter Tage zeigten, „dass zum jetzigen Zeitpunkt von der Asse weder für die Beschäftigten noch für die Bevölkerung eine Gefahr ausgeht“, sagte ein BfS-Sprecher (BfS = für Strahlenschutz).“ (taz.de 21.11.2010)Wenn ein Bundesamt misst und den gewonnenen Messwerten (sowie denen, die der ehemalige Betreiber früher vorgelegt hat,) bescheinigt, den geltenden Bestimmungen zu entsprechen, dann steht offiziell ein „Ergebnis“ doch schon vor der Ursachenklärung fest: Von der Asse kann der statistisch festgestellte „zusätzliche“ Krebs eigentlich nicht kommen.

Interessant ist in diesem Zusammen aber doch, wie und was da gemessen wird und für welchen Zweck. Die Strahlenschutzverordnung „schützt“ vor Strahlung, indem sie allen Betreibern von „strahlenden“ Einrichtungen vorschreibt, dass alles, was sie der näheren und weiteren Umgebung so zumuten, eine Grenze hat. Ihre Anlagen, „mit denen Strahlenexpositionen oder Kontaminationen von Mensch und Umwelt verbunden sein können, müssen unter Abwägung ihres wirtschaftlichen, sozialen oder sonstigen Nutzens gegenüber der möglicherweise von ihnen ausgehenden gesundheitlichen Beeinträchtigung gerechtfertigt sein.“(§ 4 Strahlenschutzverordnung)
Zwischen dem, was die Politik sich vom Betrieb der strahlenden Energieerzeugung verspricht (siehe Versus 36), und dem „Risiko“, das sie ihrem Volk dafür zuzumuten gedenkt, wird also abgewogen. Und die Wissenschaft – von der Strahlenmedizin bis zur Statistik –Versus 36). Zu beziffern bleibt das Risiko, das „wir“ dafür in Kauf zu nehmen haben, und da läuft die Wissenschaft zur Hochform auf: Ausgehend von der strahlenmedizinischen Tatsache, dass jede Dosis ionisierender Strahlung gesundheitsgefährdend ist, soll festgestellt werden, wie sehr. Von den qualitativ durchaus unterschiedlichen physiologischen Wirkungsweisen von harter Alpha- oder Gamma-Strahlung auf der einen, von den ultravioletten Strahlen, die eine Sonnenbank abgibt, auf der anderen, und von der Aufnahme von Radionukleotiden wie Caesium 137 in den menschlichen Körper auf der dritten Seite wird abgesehen. Mit der rechnerischen Zuordnung eines „Wichtungsfaktors“ wird behauptet, sie wären hinsichtlich ihrer schädigenden Wirkung auf den menschlichen Körper das Gleiche, nur unterschiedlich stark.Die Messgröße für diese biologische Wirkung („Sievert“) ist also eine mit statistischen Mitteln kreierte Größe, die es so gar nicht gibt, mit der sich aber für jede Kontamination, die man den Menschen zumutet, weiter „rechnen“ lässt, um einen „Grenzwert“ festzulegen, von dem man dann behauptet, bis zu dem würde dem Menschen das bisschen Strahlung eigentlich gar nichts ausmachen. Diese Festlegung ist wiederum das Resultat statistischer Operationen. Man braucht und erfindet dafür einen „Reference Man“, „ein 1974 von der ICRP (Commission on Radiological Protection) kreiertes hypothetisches Objekt … . Damit wird ein gesunder weißer Mann aus Nordamerika oder Europa definiert, der 25-30 Jahre alt ist, 154 pounds wiegt und 5 Fuß und 7 inches groß ist. Es wird angenommen, dass sein Immunsystem intakt sei und dass er über optimale Zellreparatur-Mechanismen verfüge.“(www.IPPNW2010.org)
Wasder aushalten kann, darüber liefern dankenswerterweise die von Japan veröffentlichten Daten über die Folgen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki Anhaltspunkte. Man kann, so entnimmt man dem, „Mensch“ schon einiges zumuten, ohne dass sein „Krebsrisiko“ den wirtschaftlichen Nutzen seiner Strahlungsexposition überschreitet, und findet mit einigem Rechnen zum passenden Grenzwert. (Wie diese Rechnereien gehen und was alles an Kritik der zugrunde liegenden Annahmen existiert, kann jeder problemlos im Internet finden.) Klar ist jedenfalls schon mit dem, was ein solcher Grenzwert ist: Die Aussage, dass mit Einhaltung der Grenzwerte von Asse – gehen wir der Einfachheit halber mal davon aus, dass nicht interessiert gemessen wird – keine Gefahr ausgeht, ist auf jeden Fall gelogen.

Wenn die Einwohner von Asse sich jetzt nicht an das halten, was für den „Grenzwert“ so „errechnet“ wurde, und in unkalkuliertem Prozentsatz von der normalen = erwarteten Krebsrate abweichen, dann beharren die Verantwortlichen auf dieser Rechnung.der dergestalt ermittelten statistischen Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Anzahl von Krebsfällen pro Bevölkerungseinheit machen sie so etwas wie eine wissenschaftlich ermittelte Gewissheit, dass mehr Krebsfälle, als statistisch grenzwertmäßig berechnet, nicht anfallen können.Die Sudellogik: Weil die „gesundheitliche Beeinträchtigung“ stärker ist als bei der Bestimmung des Grenzwerts angenommen, vorgesehen und in Kauf genommen wurde, kann sie mit dem, wofür man diesen Grenzwert errechnet hat, gar nichts zu tun haben.

Ist das erst mal wissenschaftlich erwiesen, fragt sich allerdings: Was mag in Asse ansonsten bloß los sein?! Erste Antwort: nichts! Die 9727 Einwohner der Samtgemeinde Asse sind, so wird vorstellig gemacht, eine Gruppe, deren geringe Stückzahl die statistisch überzähligen Krebsfälle als „statistisches Rauschen“ qualifiziert. Bei so wenigen ist ja ganz wenig Krebs schon statistisch signifikant! Das hat die Bundesregierung auch gleich begriffen oder begreiflich gemacht bekommen und einen Zusammenhang mit dem Atommülllager „ausgeschlossen“: „Sie erklärte demnach die Erkrankungsrate mit `statistischen Zufällen´“.(heute.de 04.12.2010)

Vertreter der Opposition und Teile der vor Ort zuständigen Lokalpolitiker möchten sich damit nicht so schnell zufrieden geben. Zusätzliche Daten müssen her, um wiederum statistisch zu ermitteln, welche vom Atommüll unabhängigen Ursachen für Krebs sorgen. Krebs kann man ja schließlich von allem Möglichen kriegen, und davon ließe sich rund um Asse durchaus einiges finden. Der Landrat von der SPD kennt sich da aus:

Neben den Strahlenabfällen in dem ehemaligen Salzbergwerk könnten vielleicht auch die in der Samtgemeinde Asse betriebene intensive Landwirtschaft, die Mülldeponie eines Chemieunternehmens oder das früher als Dreckschleuder verschrieene Braunkohlekraftwerk Buschhaus bei Helmstedt als Auslöser in Frage kommen.(HNA.de 16.12.10)

Lauter mit Grenzwerten behaftete Geschäftsfelder, die die Lebensgrundlagen der Anwohner mit Schadstoffen bereichern – da ist der Atommüll doch schon fast aus dem Schneider. Und wenn auch beim sonstigen Gift die Grenzwerte eingehalten wurden und nur statistisches Rauschen festzustellen ist? Dann bleibt immer noch allerhand zu erfragen, denn menschliches Verschulden gepaart mit Zufall lässt sich ja niemals ausschließen:

Ziehen kettenrauchende Arbeiter einer Asbestfabrik in die Gegend, könnte auch das die Zunahme von Krebs erklären.“ (SZ, ebd.)

Schön zu sehen, dass in der Krebsursachenforschung wenigstens in Bezug auf das Rauchen und das heutzutage ja fürsorglicherweise verbotene Asbest Sicherheit herrscht, obwohl beides –wenn schon Sicherheit, dann auch medizinisch und deshalb auch statistisch korrekt –eher für Lungenkrebs als für Krebs an Schilddrüse und Blutzellen sorgt.
Noch schöner das Versprechen der zuständigen Instanzen, mit Hilfe der Wissenschaft den Problemfall Asse bei besserer Datenlage noch genauer aufzuklären und für dieselbe auch zu sorgen. Ein Fragebogen an die zahlreichen Krebsfälle ist schon in Arbeit. In dem soll ein jeder „zum Beispiel Angaben zu seinen Arbeitsstellen, früheren Wohnorten, Lebensalter, Tabak- und Alkoholkonsum sowie Krebsfällen in der Familie machen.“(Naturheilkunde & Naturheilverfahren Fachportal 17.12.2010) Dann wird sich hoffentlich statistisch und ganz „ergebnisoffen“ errechnen lassen, wieso die Leute in der und um die Asse Krebs kriegen, obwohl sie doch durch die Asse gar nicht gefährdet sind. Irgendwas ist bei ihnen bestimmt falsch gelaufen!

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