Noch eine Enthüllung:

dopingDoping für die nationale Ehre

Jetzt ist es raus: Wir haben gedopt. Und zwar systematisch wie die bösen Stasis. In der guten alten Bundesrepublik wurden Sportler – auch minderjährige – nach modernsten sportwissenschaftlichen Erkenntnissen mit Spritzen, Pillen und Eigenblut zu Höchstleistungen getrieben, um Deutschland, das bessere, mit WM- und Olympiasiegen gebührend feiern zu können. Sportfunktionäre und Politiker haben davon nicht nur gewusst, sondern das Ganze gefördert und gefordert – mit Millionen und hohen Erwartungen: „Von Ihnen als Sportmediziner will ich nur eins: Medaillen in München.“ (Innenminister Genscher, 1972)

Von Genscher wird da ein stattlicher staatlicher Anspruch an den Sport in die Welt gesetzt. Neben der realen und harten Konkurrenz um Reichtum und Macht, die die Nation mit den passenden Mitteln von Geld und Gewalt betreibt, liegt dem damaligen Innenminister eine andere Konkurrenz am Herzen: der edle Wettstreit um olympische Medaillen. Um das Bruttosozialprodukt einer Nation, um ihre Außenhandelsbilanz, um ihren politischen Einfluss auf andere Nationen und darum, mit welchen militärischen Mitteln sie denen gegenübertritt, also um ihren wirklichen Stand in der Konkurrenz der Nationen geht es hier nicht, und Sieg und Niederlage ändern daran auch nichts. Was ist es dann, was Staaten und ihre Völker an solchen Veranstaltungen so fasziniert, was ist an dem Kampf um Zentimeter und Sekundenbruchteile, an dem Vergleich von individueller Kraft und Geschicklichkeit so spannend? Warum ist der sportliche Erfolg so wichtig, dass dafür auch unsportlich-illegale Mittel eingesetzt werden?

1.

Treffen Nationen in solchen sportlichen Großveranstaltungen aufeinander, so geht es ihnen um die Ehre. Es geht darum, dem eigenen Volk, aber auch den anderen Völkern die hervorragenden nationalen Eigenschaften vorzuführen und gewürdigt zu bekommen. Dafür werden herausragende Repräsentanten des Volkskörpers entsendet, die eine überragende Körperlichkeit mit unbändiger Willensstärke vereinen und es vermögen, aus ihren Körperteilen – „höher, schneller, weiter“ – eine immer größere Leistung herauszuholen und die darin den Repräsentanten anderer Volkskörper überlegen sind. Das ist ein Vergleich der Leistungsfähigkeit pur, ganz getrennt von den Leistungen, auf die es im wirklichen Vergleich der Nationen ankommt. In den Sekunden, Zentimetern und Toren, mit der Entscheidung über Sieg und Niederlage, wird diese Abstraktion im direkten Vergleich der Wettkämpfer unmittelbar anschaulich – und damit veranschaulicht der sportliche Wettkampf, worum es den Nationen ganz grundsätzlich geht: in der Konkurrenz der Nationen den anderen überlegen zu sein. Staaten ist dieser abstrakte Nachweis der nationalen Leistungsfähigkeit, in dem alle Platzierungen vom Boxen bis zum Wasserball sachgerecht über den Kamm des Medaillenspiegels geschoren werden, insofern ein äußerst gewichtiges Anliegen – sie präsentieren noch in den letzten Unterabteilungen der „schönsten Nebensache der Welt“ ihr Recht auf Erfolg. „Dabei sein ist alles“ ist darum weniger das Leitmotiv der teilnehmenden Athleten; es ist das erste Ansinnen von Staaten, denen mit ihrer Teilnahme an den turnusgemäßen Wettkämpfen ein Mindestmaß an Respekt als ehrwürdigem Mitglied der Völkerfamilie zusteht und gezollt wird. Die größeren Kaliber in der Staatenhierarchie können sich mit derartig bescheidenen Ansprüchen allerdings nicht zufrieden geben. Sie legen größten Wert darauf, dass sich ihr wirklicher Rang in der Staatenwelt im Medaillenspiegel widerspiegelt. Den Erfolg, den sie auf den entscheidenden Feldern der Konkurrenz haben, sollen ihre Athleten vorm Publikum und gegenüber anderen Staaten in den internationalen Wettkampfstätten bestätigen und den dafür gebührenden Respekt einstreichen. Siege und Medaillen, die sinnfällige Durchsetzung der Nation gegen ihresgleichen, sind dafür unentbehrlich, und entsprechend wird der „friedliche Wettstreit“ mit einem Ehrgeiz betrieben, der die daneben gepflegten Ideale einer im olympischen Geist gepflegten Völkerfreundschaft regelmäßig etwas lächerlich macht. Die größte Ehre ist es schließlich, wenn die Nation selbst als Ausrichter von olympischen oder sonstigen großen Turnieren auftritt. Sie feiert und inszeniert die eigene Größe, speziell im Rahmen von Auftakt- und Abschlussveranstaltungen, verpflichtet sich mit der Ausrichtung aber erst recht zum Erfolg ihrer Sportskanonen, damit die Massen auch etwas zum mitfiebern und -feiern haben.

2.

Dem Volk unterbreiten die Staaten mit den regelmäßig stattfindenden sportlichen Großereignissen das Angebot, sich mit der großen Sache, für die die Athleten Ehre einlegen, zu identifizieren. Sie inszenieren die Wettkämpfe als nationale Sternstunde, bei der das Publikum, das seinen internationalen Vergleich im wesentlichen an der Arbeitsfront absolviert, Gelegenheit erhält, sich als Teil der Erfolgsgemeinschaft zu fühlen und darzustellen, deren herausragende Exemplare den Kampf mit den Konkurrenten bestreiten. Wenn’s gelingt, steht es am Ende selbst ideell mit seinen Helden „ganz oben auf dem Treppchen“. So dopt man das Volk mit dem Genussmittel Nationalismus.

3.

Dem für diese Sorte Konkurrenz speziell tauglichen Material kommt von Staats wegen eine De-luxe-Betreuung zu. Für eine allgemeine Ertüchtigung des Volkskörpers sorgt der Breitensport; dort wird gesichtet, auffällige Exemplare werden herausgezogen, es wird ihnen das Angebot gemacht, ihren persönlichen Ehrgeiz in einen nationalen zu überführen, und es werden ihnen die für sie passenden Sportarten, also solche, in denen sie sich auch international sehen lassen können, nahegelegt. Angebote, mehr aus sich zu machen – über die die reichen Staaten natürlich in viel größerem Umfang verfügen  –, gibt es in Form von Sportkompanien und Leistungszentren, es gibt Unterstützung von Seiten der an den Hochschulen gepflegten Sportwissenschaft und natürlich gibt es auch eine medizinische Betreuung. Die kümmert sich nicht bloß um die Pflege geschundener Gelenke etc., sondern trägt übers bloße Training hinaus einiges zur Leistungssteigerung bei mit der Erforschung von leistungsfördernden Hormonen, Aufbaupräparaten und anderen pharmazeutischen Glanzleistungen. Die Siege, die her müssen, und die Mittel, die dafür mobilisiert werden, beflügeln allerdings nicht nur Sportmediziner und -wissenschaftler in ihrem Tatendrang. Die beteiligten Nationen haben damit das weite Feld der Konkurrenz um die Regeln des fairen Wettkampfs eröffnet, institutionalisiert im Streit von Dachorganisationen des Sports, nationalen und internationalen Dopingagenturen um Kompetenzen, Kontrollrechte, die Liste der Substanzen, die unter Verbot zu stellen sind etc. Hier suchen die beteiligten Staaten sich gegenseitig bei der Entwicklung und Anwendung dessen, was ihre Labore hergeben, zu beschränken, ihre neuesten Entdeckungen als regelkonform in die jeweils vereinbarten Standards hinein zu definieren und die Anstrengungen der anderen als unvereinbar mit den Anforderungen an einen „sauberen Sport“ zu ächten. Das darüber zustande kommende internationale Regelwerk stachelt ihre Konkurrenz um die wirksamsten „dirty little helper“, die beim gegenwärtigen Stand der Wissenschaft garantiert unentdeckt bleiben, noch einmal richtig an. Die viel beklagte rechtliche „Grauzone“, die das Doping angeblich darstellt, hat keinen anderen Grund und Inhalt als die fortgesetzte medizinisch-wissenschaftliche Anstrengung, neue leistungssteigernde Substanzen und Verfahren zu entwickeln, die noch auf keiner Verbotsliste stehen, und die Anwendung geächteter Mittel soweit zu optimieren, dass mit den bekannten Kontrollinstrumentarien nichts nachzuweisen ist. Wenn dann trotz allem herauskommt, was unbedingt geheim bleiben sollte, dann gebietet die Ehre der Nation, für die der ganze Scheissdreck überhaupt nur betrieben wird, die unnachsichtige öffentliche Verachtung der überführten „Dopingsünder“ und ihrer Helfer.

4.

Es sei denn, es gilt noch einmal ein Kapital des innerdeutschen Systemvergleichs abzuwickeln. Was den Betrug auf diesem Feld der Ehre angeht, steht der starke Verdacht im Raum, dass die Bundesrepublik Deutschland dem Erzrivalen DDR in nichts nach stand. Muss man nun alle Medaillen wegschmeißen und ab sofort in Sack und Asche gehen? Hat Herr Wagner von der BILD-Zeitung Recht, wenn er jammert: „Alle meine Helden sind nichts mehr wert … Die Geschichte ist so schlimm, sie ist zum Verzweifeln“? Nein, denn die Demokratie weiß, wie man mit solchen Skandalen umgeht. Erstens gibt es bei uns eine mediale Aufarbeitung des ganzen Elends. Alles, was sich nicht mehr geheim halten lässt, wird ab sofort nicht mehr geleugnet und vertuscht, sondern öffentlich gemacht und rückhaltlos aufgeklärt. Schon das zeigt die Überlegenheit des freiheitlichen Systems gegenüber dem Unrechtsregime der Ulbrichts und Honeckers. Die jedenfalls haben bis zum Untergang ihres Ladens jede Gelegenheit zu umfassender Aufdeckung und Aufklärung verstreichen lassen. Zweitens fallen die Skandale im wesentlichen in die Epoche des „Kalten Kriegs“, in der sowieso eine Art Ausnahmezustand herrschte. Ohne weitere Zutat sind mit dem Verweis auf die Systemkonkurrenz schon so etwas wie mildernde Umstände festgestellt. Drittens haben die Sportpolitiker, Funktionäre und Wissenschaftler drüben ihre Athleten in kompletter Unwissenheit systematisch als pharmazeutische Versuchskaninchen missbraucht oder gleich auf breiter Front zum Doping gezwungen, also Freiheit und Menschenwürde ihrer Sportskanonen mit Füßen getreten, während hierzulande im großen und ganzen Freiwilligkeit beim flächendeckenden Doping herrschte. Und noch die Ahnungslosigkeit altgedienter Fußballidole bezüglich der ihnen angetragenen „Vitaminspritzen“ bezeugt eher Einzelfälle von selbstverschuldeter geistiger Vereinseitigung. So gibt’s auf der Zielgeraden doch noch einen klaren Sieg für das freiheitliche System: Auch in der Frage des Betrugs ist die Demokratie einfach unschlagbar…

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