Psychologe

Leute danach beurteilen, „was für Welche“ sie sind; Mitmenschen durch verständnisvolle Ratschläge dazu bringen, anders – besser, tüchtiger, glücklicher – zu werden: Diese beiden Beschäftigungen hat die moderne bürgerliche Gesellschaft zum Inhalt eines eigenen akademischen Berufes erhoben.

Der berufsmäßige Psychologe wartet mit wissenschaftlich konstruierten Ermittlungsverfahren auf, die eine ganz objektive Bestandsaufnahme dessen versprechen, was ,in“ einem Menschen „steckt“, noch ganz unabhängig von den inhaltlichen Anforderungen eines Berufs oder Studiums, eines Ehe- oder Familienlebens oder einer noch anders gearteten Karriere.

In psychologischen Tests werden diese Anforderungen simuliert; einerseits so genau wie möglich, andererseits unter sorgfältiger Vermeidung jedes Inhalts, um den es in Wirklichkeit geht, jedes materiellen Interesses, mit dem die Testperson zu tun bekommt oder bekommen soll, jeder Auseinandersetzung mit ihr über Dinge, die für sie eine Rolle spielen oder wichtig werden sollen. Der Psychologe ist ja nicht – und will auch gar nicht sein – der Ehepartner, dem an der Zuneigung eines Menschen liegt, oder der Lehrer, der einem Schüler bestimmte Fertigkeiten oder Wissensbrocken vermitteln soll, oder der Arbeitgeber oder Personalchef, der irgendeine Arbeit mit geschäftsdienlicher Geschwindigkeit und Sorgfalt erledigt haben will. Einen anderen Standpunkt als den der Nutzbarmachung von Menschen kennt der Berufspsychologe aber auch nicht. Er tritt als Anwalt aller derartigen Anliegen auf, ohne sie zu teilen und sich mit der Person, die er beurteilen soll, über deren Erfüllung zu streiten. Seine Parteilichkeit für die wirklichen Anforderungen des bürgerlichen Daseins ans Individuum und für eine funktionsgerechte Bewährung in den verschiedenen Sphären der Konkurrenz ist abstrakt; sie gilt keiner konkreten Konkurrenznotwendigkeit, sondern der Idee des „Bewältigens“ und „Fertigwerdens“ schlechthin. Für dieses Prinzip ist seine Parteilichkeit aber um so radikaler: Das Genügen oder Versagen einer Person vor seiner abstrakten Anspruchshaltung, in der alle bürgerlichen Zwänge aufgehoben sind, fasst der akademische Seelenkenner als Ausweis einer inneren Beschaffenheit des Subjekts auf, als Äußerung eines seelischen Wesens. Die Urteile, nach denen einer sein Leben einrichtet, nimmt er von vornherein gar nicht als – richtige oder falsche, diskutable oder indiskutable – Urteile, sondern als Symptome einer dem Individuum angeblich zugehörigen, quasi eigenschaftlichen Fähigkeit, überhaupt Anforderungen von der Art zu entsprechen, wie Familie und Arbeitgeber, Lehrer oder Nachbarn sie an einen stellen. Am mehr oder weniger willigen Ehegatten überprüft der Psychologe in diesem Sinn die „Liebesfähigkeit“, am Schüler die größere oder geringere „Lernfähigkeit“, am Arbeitnehmer getrennt von der wirklich geschafften Karriere die „Fähigkeit“ zum Karrieremachen überhaupt usw. Diese gedachte seelische Eignung will er messen; und zwar objektiver und gründlicher, als das im praktischen Leben geschieht, wo die errungenen Erfolge und erlittenen Niederlagen ganz sachlich darüber entscheiden, was aus einem Menschen wird und „was für einer“ er am Ende ist. Der psychologische Test simuliert an bewusst unpraktischen Aufgaben praktische Siege und Misserfolge, um Material für den „Rückschluss“ auf eine dem Individuum angeblich innewohnende Erfolgstüchtigkeit und deren Maß beizuschaffen.

Es gehört durchaus Professionalität dazu, diesen Standpunkt durchzuhalten. Schließlich muss der Psychologe geduldig jeder Versuchung widerstehen, die Person, die er einschätzen soll, als urteilendes, eigene Interessen geltend machendes, falsch oder möglicherweise sogar richtig argumentierendes Subjekt zu nehmen, sich mit ihr über gewisse Einschätzungen zu streiten, sie zu widerlegen oder sich widerlegen zu lassen usw. Sein Job ist es, radikal ernst zu machen mit der Interpretation des ihm vorgeführten Menschenmaterials als „Fälle“, die mit allen ihren Äußerungen nichts als innere Dispositionen und Determinationen verraten. Es darf bei ihm nichts von Beschimpfung an sich haben, wenn er – eingedenk des an der Uni Gelernten – seine Klienten wie eine Art besonders komplexer und dressurfähiger Ratten auffasst, deren Verhaltensweisen als Reaktionen auf gegebene Reize zu erfassen, am Maßstab wohlberechneter Durchschnittswerte zu messen und als normentsprechend oder abweichend einzuordnen sind. Der Berufspsychologe muss als Urteilsinstanz auftreten, die mit den Leuten gar nicht auf gleichem Fuß steht und verkehrt, sondern prinzipiell und immerzu „dahinterblickt“; in die Welt der Zwänge und Anlagen nämlich, in der festgelegt sein soll, was einer überhaupt begreifen und wollen, leisten und an Bedürfnissen entwickeln kann.

Mit solchen Richtersprüchen über die Leistungsfähigkeit des Willens und Bewusstseins der Leute erfüllt der Psychologenstand seinen ersten Dienst für die moderne Gesellschaft: als Eignungstester für alle bürgerlichen Lebenslagen. Arbeitsämter und Personalbüros, Schulbehörden und der TÜV, Zeitschriften und soziale Vereine stellen dafür Posten und Etats bereit. Dieser Dienst besteht nicht in der wirklichen Ermittlung dessen, was ein Individuum will und kann; wer Menschen anwenden will, der verlässt sich im bürgerlichen Alltag ohnehin mehr auf den materialistischen Grundsatz, dass ein freies Subjekt sich noch allemal für das hergibt und das zustande bringt, wofür man ihm mit Erpressung und Geld einen guten Grund liefert. Der Beitrag der Psychologie bezieht sich auf die Ideologie der Konkurrenz: auf den bürgerlichen Aberglauben, die Welt des demokratischen Kapitalismus böte jedermann letztlich nichts als allenfalls etwas ungleich verteilte Chancen und Möglichkeiten, aus dem eigenen Leben zu machen, was einem jeden beliebt, gefällt und gelingt. Sie widmet sich dem zu dieser Lüge gehörigen Zirkelschluss von dem wozu es einer gebracht hat, auf dessen „Natur“ und Fähigkeit, es „zu etwas zu bringen“ und daraus wieder abzuleiten, wozu er es gebracht hat. Die Ergebnisse der Benutzung der Leute und ihres freiheitlichen Konkurrierens übersetzt sie in die Vorstellung, da äußerte sich ein jedem einzelnen eingeschriebenes (Miss-)Erfolgsgeheimnis. Jedes Individuum macht sie mit seiner höchstpersönlichen „Ausstattung“ zum Grund dafür, wie mit ihm verfahren wird und was deswegen aus ihm wird, und bescheinigt ihm zugleich mit der Idee einer naturwüchsigen Disposition, dafür nicht willentlich und bewusst verantwortlich zu sein. Das ist ihr eigentümlicher Zusatz, ihr wissenschaftliches Vor- und Nachwort zu der Sortierung, die der kapitalistische Alltag mit Schule, Berufshierarchie, Familienleben und Konkurrenz auf handfeste, gesetzlich geschützte Weise durchsetzt. Bei den Einstellungsbehörden von Staat und Wirtschaft, aber auch bei manchen besorgten Eltern und aufgeklärten Heiratsbewerbern ist dieser ideologische Zusatz sogar als praktischer Leitfaden zu Ehren gekommen: Sie richten sich in ihren Personalentscheidungen gern nach den Ergebnissen psychologischer Tests. Verkehrt machen können die wissenschaftlich geschulten Praktiker dabei kaum etwas: Für die Ausscheidung überzähliger Kandidaten geben die Befunde aus den Psycho-Fragebögen und -Labors genauso gute Anhaltspunkte her wie jeder Würfel, und dabei genügen sie noch den höchsten Ansprüchen an die Gerechtigkeit und einen Schein von Objektivität. Außerdem reagieren die meisten Leute, moderne Konkurrenzgeier schon gleich, in der „unter Laborbedingungen“ simulierten Anforderungssituation trivialerweise so ähnlich wie in der wirklichen Lebenspraxis, von deren Inhalt der psychologische Test gerade kunstvoll absieht; das verstehen und verkaufen die Berufspsychologen als innerwissenschaftliche „Validierung“ und glanzvolle lebenspraktische Bestätigung ihrer Testerei. So konnte der Irrtum kaum ausbleiben, dass etwas daran sein muss, wenn ein ganzer staatlich anerkannter Gelehrtenstand professionell ein solches Einschätzen von Leuten betreibt.

In den fortschrittlichsten Demokratien ist diese Sichtweise auch beim breiten Publikum bestens angekommen. Der Standpunkt, dass Wille und Verstand der Menschen unter dem Gesichtspunkt ihrer Benutzbarkeit gemessen gehören und dabei ihre spezielle innere Determination zu erkennen geben, gibt offenbar eine unschlagbare Konkurrenzideologie her. Er hat jedenfalls längst die unprofessionellen Manieren der Menschenkenntnis und Selbsteinschätzung erobert und ganz neue Bedürfnisse nach Rat und Hilfe zur „Lebensbewältigung“ hervorgebracht, die wiederum der Berufsstand der Psychologen beflissen bedient.

Was moderne Menschen tun müssen – als Mieter oder als Hausfrau, als Teilnehmer an der beruflichen Konkurrenz und als abwägender Konsument mit oder ohne Kredit, als politisierender Wähler oder als Eltern schulpflichtiger Kinder , das beurteilen auch ungeschulte Menschenkenner heute ganz ohne jedes objektive Urteil über die gesellschaftlichen Sachverhalte, an denen die Leute sich zu schaffen machen müssen und denen sie ihr Dasein und Sosein verdanken. Geprüft wird die Art und Weise, die einer bei der „Bewältigung“ seines Lebens, dessen paar Inhalte längst festliegen, an den Tag legt. Darin wird nach einer Tauglichkeit eigener Art gefahndet. Den Maßstab gibt das dumme Ideal vom „gelungenen Leben“ ab: einer Lebensführung, die ganz jenseits aller Inhalte des geführten Lebens, sogar unabhängig von den Bedürfnissen des Individuums und deren Befriedigung oder Versagung, das Subjekt mit sich selbst zufrieden sein lässt. Daran soll sich nämlich entscheiden, ob und inwieweit es einem gelungen sei, sein „Selbst“ zu „verwirklichen“ – so als wäre die gesellschaftliche Welt mit ihrem Zwang zum Geldverdienen und ihren erpresserischen Notwendigkeiten und Gesetzen ein einziger Freiraum dafür, dass die Leute ihre Dispositionen und inneren „Zwänge“ „ausleben“ oder auch nicht, einem ihnen eingeschriebenen Erfolgsgesetz folgen oder eben ihr „Selbst“ verfehlen; und so als wäre das Inhaltsleerste, die pure Form der Reflexion, das „Selbst“ eben, der Inbegriff aller zulässigen Wünsche, Einsichten und Bedürfnisse eines Menschen.

Von den Berufspsychologen haben moderne Menschen den Fehler gelernt, in sämtlichen Betätigungen, aus jedem Erfolg und Misserfolg einen „Schluss“ auf die eigene Person und deren vorgegebene „Ausstattung“ zu ziehen. Sie haben gelernt, jeden Treffer als Verweis auf eine höchstpersönliche Erfolgstüchtigkeit, jeden Missgriff als Offenbarung einer determinierenden Unfähigkeit zu verstehen: Angeberei bzw. betrübte Selbstbetrachtung mit Methode.

Die Moralität moderner demokratischer Gesellschaften ergeht sich nicht mehr in der Dialektik von Gesetz, Schuld und Sühne, sondern hat die rauen Sitten des rechtsstaatlichen Konkurrierens zu der Vorschrift veredelt, „sich selbst“ zu entsprechen. Sie führt Erfolg ebenso wie Missgeschick und Unzufriedenheit auf eine Betätigung bzw. Verletzung dieses individuellen Lebensgesetzes zurück und verlangt von jedermann, ungeachtet seiner „äußeren Umstände“ mit sich selbst „ins Reine“ zu kommen.

Auf diese Moralität sind die Profis der modernen Seelsorge mit ihrem Angebot an Rat und Hilfe eingestiegen; und es ist ein Bombenerfolg daraus geworden. Psychologisch betreut bis verabreicht kommt die in der Konkurrenz sowieso allgegenwärtige Angeberei zu Ehren: Als „Selbstbewusstsein“, ohne das einem keiner abkauft, dass man „etwas taugt“, weil man es ja selbst offenbar nicht glaubt. Die in Filmen gern bebilderte Erfindung eines „Erfolgscharakters“ der alles schafft und alles erreicht, nur weil er „an sich glaubt“ und den Erfolg „unbedingt will“, wird heutzutage von der Psychologie vom Wahn in den Status einer zu beherrschenden „Erfolgstechnik“ erhoben, die in der modernen Konkurrenzgesellschaft tatsächlich Karriere macht.. So darf mancher Psychologe sein Geld verdienen mit der Aufmöbelung der entsprechenden modernen Tugenden: Rücksichtslosigkeit, aber gekonnt = „Durchsetzungsfähigkeit“ und Aufschneiderei, aber glaubwürdig = Selbstbewusstsein. Mancher macht sogar damit ordentlich Kasse, dass Firmen ihn ein ganzes Wochenende Außendienstmitarbeiter darin trainieren lässt, ununterbrochen laut heraus zu schreien „ich bin ein toller Hirsch“ – natürlich ohne rot zu werden.

Massen frei praktizierender Psychologen sowie die Angestellten gesellschaftlicher Seelenbetreuungsunternehmen warten andererseits mit unerschöpflichen Vorräten an Verständnis auf für jeden, der sich mit seinen Problemen und Misserfolgen auf den psychologischen Fehler festgelegt hat, sich selbst eines seelischen Gebrechens zu bezichtigen und in Betrachtungen seiner naturwüchsigen Unfähigkeiten Trost zu suchen. Der Psychologe gibt diesen Reflexionen erstens recht, und das zweitens viel mehr und ganz anders, als „der Fall“ es sich hat einfallen lassen. Wo immer der ratsuchende Kunde noch ein Urteil über seine „Umgebung“ – seinen Beruf, seine Kollegen, seine Familie usw. – fällt, da hält der Profi ihn dazu an, sich selbst ins Auge zu fassen, die das Urteil begleitenden Empfindungen zu registrieren und sich an die Vorstellung zu gewöhnen, darin würden sich überhaupt erst die wahren und eigentlichen Ursachen seiner Urteile und seiner Stellung zur Welt überhaupt verraten. Damit beginnt die psychologische Verführung zur Konstruktion eines anschaulichen Bildes vom eigenen unwillkürlichen „Selbst“. Mit der Autorität des Fachmanns bläst der akademische Ratgeber seinem „Fall“ die Vorstellung von Kräften, Energien, Potenzen und dergleichen ein, die im – jenseits wacher Selbstkontrolle beheimateten – seelischen „Innern“ des Individuums ihren Tanz aufführen und den Verstand und Willen, den einer aufbringt, in Wahrheit herumstubsen. Die „selbstkritische Einsicht“, zu der der Fachpsychologe seinen Klienten bringen will, besteht eben darin, ihn so in die Phantasiewelt eines inneren Dramas zu verstricken, bis er daran glaubt, sie zu seinen ganz selbstverständlichen Erfahrungen rechnet und sein Tun und Lassen als Äußerung jenes fiktiven Inneren nicht bloß ansieht, sondern methodisch handhabt. Die Schwindeleien des Therapeuten müssen zum Selbstbetrug des „Patienten“ werden. Wird der Seelendoktor sich mit seinem „Fall“ auch noch darüber handelseinig, dass ein paar neue Launen, unterbliebene Schweißausbrüche oder sonstige „Erfolgserlebnisse“ einen Wandel der fiktiven inneren Dramaturgie vermuten lassen, dann lässt der Kunde womöglich von ein paar lästigen Marotten ab, unter denen er bis dahin litt; und der Berufspsychologe verbucht wieder einen therapeutischen Erfolg. Bis dahin kann es bei zahlungsfähiger Kundschaft schon mal Jahre dauern. Geschickte Psychoanalytiker lassen ihre „interessanten Fälle“ nicht davonkommen ohne die umfassende Neukonstruktion einer kompletten innerseelischen Lebensgeschichte, bei der Träume und Kindheitserinnerungen der methodisch eingestellten Einbildungskraft des Klienten immer neue Nahrung geben – und dem Therapeuten das Material für immer neue Vexierbilder vom angeblich eigentlichen „Selbst“ des Kunden liefern. Wo die AOK die Spesen trägt und auf kostengünstige „Heilungs“-Erfolge drängt, kommen Fachpsychologen aber gerade so gut mit einem Minimum an „Einsicht“ bei ihren Patienten zurecht. So roh wie der Spleen, den sich da einer abgewöhnen soll, sind die mit Pillen unterstützten Überzeugungskünste der Profis von der „systematischen Desensibilisierung“. Ansonsten bescheren Gesprächstherapeuten in wachsender Zahl einer wachsenden Kundschaft wöchentlich ein paar schöne Stunden, in denen beide Seiten sich zwanglos darüber einigen, wie prächtig der Fachmann sich doch auf den von sonst niemandem (an)erkannten verborgenen inneren Reichtum der problembeladenen Individualität des leidenden „Falles“ versteht. So betreuen die berufsmäßigen Psychologen die Lüge von der „Selbstverwirklichung“, die den blessierten Mitmachern des Kapitalismus vorgaukelt, in der modernen Welt könnte man gar keine anderen Probleme haben als solche mit sich. Sie benutzen die Freiheit, die im Reich der Einbildung herrscht, für die Einbildung innerlicher Zwänge nebst Befreiung davon.

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