Lehren aus der „Schuldenkrise“ 2011

Was Merkels Versprechen
„Wir lassen Griechenland nicht fallen!“
für die Griechen bedeutet

Jeden Tag kommt es in den Nachrichten: Griechenland ist praktisch bankrott, der Staat ist kaum noch zahlungs , also kaum noch handlungsfähig. Das kann sich jeder auch für sein privates Leben vorstellen: Wenn man kein Geld mehr hat, geht nichts mehr. Aber beim griechischen Staat ist es ein wenig anders: Wenn dem das Geld ausgeht, bedeutet es, dass er zusätzlich zu seinen alten Schulden keine neuen mehr aufnehmen kann, dass er also seinen Schuldenbestand nicht mehr wie gehabt erweitern kann. Dasselbe bedeutet aus dem Blickwinkel der Banken, die auf den Finanzmärkten ihr Geschäft machen: Sie sind an Angeboten des griechischen Staates, sie mit der Platzierung von neuen Zahlungsversprechen reicher zu machen, nicht mehr interessiert, sie glauben nicht mehr, dass er das Zinsversprechen auf seine Staatsanleihen einhalten kann.

Damit wird gegenüber Griechenland eine jahrzehntelang geübte Praxis aufgekündigt, die für alle Staaten gilt, die sich der Marktwirtschaft verschrieben haben. (Auch andere Staaten sehen sich bekanntlich vom selben Misstrauensantrag der Finanzmärkte bedroht – ein „Dominoeffekt“ wird beschworen.) Das ist für Staaten der GAU. Jahrzehntelang haben die Banken Staatspapiere gerne und wie selbstverständlich gekauft, und wenn sie dabei zwischen den Staaten Unterschiede gemacht, also unterschiedlich hohe Zinsen verlangt haben, war das ein willkommener Zusatzgewinn. Das Geschäft mit den Staatsanleihen galt Geldhäusern als solider Grundbestandteil ihres Vermögens und damit als Basis für ihre unzähligen weiteren Kreditgeschäfte. Denn was gibt es für eine bessere Sicherheit als das hoheitliche Versprechen eines Staates, für das er mit seiner Gewalt über Land und Leute bürgt? Keine Bank ist auf die Idee gekommen, Staaten wie gewöhnlichen Schuldnern mit der Forderung zu kommen: Zahl erst einmal deine alten Schulden, bevor du einen neuen Kredit bei mir aufnehmen kannst. Vielmehr war es den Bankern gerade recht, wenn zu den Zinseinnahmen aus alten Staatsschulden neue Zinseinnahmen aus neuen Staatsschulden hinzukamen und sie ihre Geschäftstätigkeit weiter ausdehnen konnten. Sie hatten also keine Einwände gegen die Staatsverschuldung, hielten es vielmehr für marktwirtschaftlich korrektes Handeln, wenn die Staaten auf ihrem Standort den Kapitalismus so voranbringen wollten. Dabei kommt es nämlich nicht in Frage – wie es vielleicht der sprichwörtlichen sparsam wirtschaftenden schwäbischen Hausfrau gefallen würde –, sich von den laufenden Einnahmen beschränken zu lassen, die ein Staat als Steuern von seinen Bürgern einsammelt. Es müssen zusätzliche Mittel her, eben die sich ständig ausweitenden Schulden. Es ist darum lächerlich und verlogen, wenn jetzt im Nachhinein Beschwerden über eine „fahrlässige und unsolide Schuldenmacherei“ gegen Staaten wie Griechenland, Portugal, Spanien, Italien usw. erhoben werden. Wie alle anderen Staaten auch haben sie sich verschuldet und sie haben diese Verschuldung als Konkurrenzmittel gegen andere Staaten eingesetzt – sie waren bloß nicht so erfolgreich wie andere Euro-Länder, allen voran Deutschland, der Eurozonen-Führungsmacht. Konkurrenz produziert nun mal notwendigerweise Gewinner und Verlierer. Da ist es dann eine leichte Übung, den Schulden der Verlierer zu attestieren, dass sie sich im Vergleich zu denen der Gewinner weniger gelohnt haben.

Jetzt geht das Geschrei los. Das Blöde an diesen Verlierernationen ist ja, dass mit ihren Problemen bei der Bedienung ihrer Euro-Schulden eine Beschädigung der Gemeinschaftswährung passiert, die alle Staaten der EU mit dieser Währung betrifft und auch deren Staatskredit gefährdet.

Wie dagegen vorgehen? Die eine Abteilung ist die moralisch-rechthaberische. Nach der üblichen Logik des bürgerlich-demokratischen angeblichen Sachverstandes wird der Grund des Sachverhalts gerade nicht erklärt, sondern die Schuldfrage aufgemacht: ‚Wenn was schiefgegangen ist, muss dann nicht jemand etwas Ungehöriges mit unserem Euro gemacht haben?‘ Verurteilt werden die Verlierer als die Schuldigen und die Bild-Zeitung kann gegen die Griechen hetzen.

So ist die Öffentlichkeit ideologisch bestens auf das Krisenmanagement der Politik präpariert. Da herrscht nämlich eine ebenso einfache wie brutale Logik: Da der griechische Staat keinen Kredit mehr hat, hat er auch nicht mehr über seinen Haushalt zu bestimmen. Die EU-Führungsstaaten buchstabieren ihm vor, was er für eine eventuelle Wiedererlangung seiner Kreditwürdigkeit tun muss: Er muss seinen Haushalt zusammenstreichen, wo es nur geht. Die für entbehrlich erklärten Teile des Staatspersonals müssen weg, wobei auf die Sorge der griechischen Regierung, dass dann gar nichts mehr funktioniert, wenig bis gar keine Rücksicht genommen wird. Dem Rest wird eine Gehaltskürzung nach der anderen verordnet. Was das Ausbildungswesen, die Alters- und Krankenversorgung angeht: Da gibt es dann eben von allem weniger. Nicht zuletzt gibt es noch eine Mehrwertsteuer-Erhöhung, die einen unschlagbaren Vorteil bietet: Weil alle, um leben zu können, sich was kaufen müssen, kommt ihr keiner aus. So manches, was der Staat selber besitzt, muss er verkaufen, natürlich zu Preisen, die die anspruchsvollen internationalen Kapitalanleger anlocken. Die machen ihr Schnäppchen, und der griechische Staat ist das, was einmal sein Besitz war, los. Was immer er damit wirtschaftspolitisch vielleicht mal anfangen wollte, kann er vergessen, denn die Einnahmen hat er in die Schuldenbedienung zu stecken. Usw. usf.

Freilich: Einen Nachteil hat das Sparen, und der wird auch ausgiebig besprochen: Wenn der Staat nicht mehr kreditwürdig ist und seine ganze Tätigkeit darauf zusammenschrumpft, diese Kreditwürdigkeit wiederzuerlangen, dann fällt all das Geld weg, das er früher einmal in die Förderung der nationalen Wirtschaft, in die Finanzierung des Wachstums, gesteckt hat. Dieses Geld fehlt also – nein, nicht den Leuten, sondern der „Wirtschaft“. Sie muss auf die gewohnten Staatsaufträge, Wachstumsanreize und Subventionen verzichten, und auch das allgemeine Sparen trifft sie. Denn das wirtschaftspolitisch besonders Bedenkliche an der Verarmung des ganzen Volkes ist bekanntlich die schrumpfende inländische Nachfrage, so dass die Geschäftswelt ihre Produkte auf dem heimischen Markt nicht mehr gewinnbringend los wird. Dass damit Griechenland immer weiter in die Rezession gerät und die Kreditwürdigkeit in immer weitere Ferne rückt, das pfeifen die Spatzen als „Dilemma“ aus den Redaktionsstuben. Aber es hilft nichts: Da muss Griechenland jetzt durch.

In dieser Lage hat Kanzlerin Angela Merkel einen guten Rat auf Lager, wie das Land mit diesem Dilemma umzugehen hat. Es muss wieder wettbewerbsfähig werden und sich dafür ein Beispiel an Deutschland nehmen. Dessen Erfolgsgeheimnis heißt: niedrige Lohnstückkosten.

Das ist doch mal eine bemerkenswerte Auskunft, worauf es in einer kapitalistischen Nation zuallererst ankommt. Um wettbewerbsfähig zu sein, muss der Anteil des Lohns an jedem Stück Ware ständig gesenkt werden. Das geschieht zum einen durch Verbilligung der Arbeit, wie das Deutschland unter rot-grüner Regierung vorbildlich mit der Durchsetzung eines Niedriglohnsektors vorgeführt hat. Das geschieht zum anderen dadurch, dass pro Stück immer weniger Arbeit aufgewendet wird, was die Arbeit immer produktiver macht. Die entsprechenden Investitionen in Maschinerie, Arbeitsorganisation usw., die allerdings zusätzlichen Kapitaleinsatz erfordern, führen dazu, dass aus jedem einzelnen Arbeiter immer mehr Leistung für relativ weniger Lohn herausgeholt werden kann. Das Kürzel dafür heißt rentable Arbeit, und darauf, das weiß die Kanzlerin ganz genau, beruht die Durchsetzungsfähigkeit des nationalen Kapitalismus gegen den Kapitalismus anderer Nationen. Erfolgreich angewandte Lohnarbeit ist also die Waffe in der internationalen Konkurrenz und die alles entscheidende Quelle des Reichtums der Nation. An diesem Reichtum haben die Einkommen der Lohnarbeitenden nicht nur keinen Anteil, der Reichtum beruht ja gerade darauf, dass ihre Einkommen möglichst niedrig sind. Und genau das bedeutet rentable Arbeit im real existierenden Kapitalismus.

Der gute Rat der Kanzlerin ist von bemerkenswertem Zynismus: Griechenland ist Verlierer in der Konkurrenz, hat es also in der Anwendung der Waffe in dieser Konkurrenz, der rentablen Arbeit, nicht zu denselben Erfolgen gebracht wie andere. Oder umgekehrt: Es ist in Sachen Produktivität und Produktivitätssteigerung immer mehr gegenüber anderen zurückgefallen, obwohl die griechischen Arbeitskräfte im Schnitt schlechter bezahlt werden als etwa die deutschen. Es fehlte eben an der entscheidenden Voraussetzung dafür, aus billigen Arbeitskräften hohe Produktivität herauszuholen: an schlagkräftigem Kapital oder besser: an Investoren, die auf künftige Gewinne im Standort Griechenland setzten und dafür dicke Kredite aufnahmen. Angesichts der griechischen Staatsschuldenkrise gibt es jetzt erst recht kaum Investoren, die in Griechenland einsteigen. Und für den griechischen Staat ist es aus dem oben erklärten Grund unmöglich, sich weiterhin für die Ankurbelung von Wachstum zu verschulden. So läuft der gute Rat der Kanzlerin an den griechischen Staat nur auf eins hinaus: Dein einziges Konkurrenzmittel besteht in einer rabiaten Senkung des Lebensniveaus deines Volkes. Nur wenn du aus dem ein absolutes Billigangebot machst, kannst du vielleicht ausländisches Kapitalinteresse auf dich ziehen. Das ist ein bemerkenswertes Bekenntnis dazu, dass der Reichtum auf dem Ausschluss der Lohnarbeiter beruht. Und zugleich ein hohles Versprechen an den klammen griechischen Staat: Als ob mit der relativen Billigkeit der Lohnarbeit automatisch die Investoren anrücken würden.

Von daher weiß man auch, was von der Beteuerung zu halten ist: „Wir lassen Griechenland nicht fallen“. Das heißt: Griechenland bleibt auf jeden Fall unter europäischer Oberaufsicht. Die achtet darauf, dass der griechische Staat die Verarmung bedingungslos durchzieht, unabhängig davon, ob dann das eine oder andere europäische Kapital dies als Gelegenheit nutzt, auf Kosten und unter Verwendung der verarmten griechischen Lohnarbeiter im Land sein Geschäft zu machen. Darin und in nichts anderem hat der griechische Staat seine künftige wirtschaftliche Grundlage und Zielsetzung zu sehen.

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in GegenStandpunkt 3-11

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